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Dahn im Oktober 2000


Die Deportation der Juden aus dem Wasgau
im Oktober 1940 in das Camp Gurs in Südfrankreich

Von Otmar Weber



Nach dem Abschluss des Waffenstillstandes zwischen Deutschland und Frankreich am 22. Juni 1940 wurde Josef Bürckel, Gauleiter des Gaues Saarpfalz, zum Chef der Zivilregierung in Lothringen und Robert Wagner, Gauleiter von Baden, zum Chef der Zivilregierung im Elsaß ernannt. Die deutsch-französische Waffenstillstandskommission in Wiesbaden hatte vereinbart, alle Juden französischer Staatsangehörigkeit in das unbesetzte Frankreich umzusiedeln und in südfranzösischen Lagern unterzubringen.
Der für Lothringen zuständige Gauleiter Bürckel und der für das Elsaß zuständige Gauleiter Wagner dehnten diese „Umsiedlungsaktion“ auf ihre Gaue Saarpfalz und Baden aus und ließen auch die Juden deutscher Staatsangehörigkeit nach Südfrankreich transportieren. Gauleiter Josef Bürckel, vormals Volksschullehrer in Rodalben, meldete stolz seinem Führer: Die Pfalz ist Judenfrei!

Die Abschiebeaktion wurde schlagartig und überraschend in der Nacht vom 21. auf den 22. Oktober 1940 durchgeführt. Sie fand im Einverständnis mit Hitler und SS-Führer Himmler statt und wurde wahrscheinlich vom Chef der Sicherheitspolizei (SIPO) und des Sicherheitsdienstes (SD) Heydrich und dessen Referatsleiter Eichmann organisiert.
Betroffen waren alle transportfähigen Juden, ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht. Die Aktion traf die saarpfälzischen und badischen Juden völlig unvorbereitet.
An Hand vorhandener Listen wurden die Juden in der Nacht vor ihrem Abtransport benachrichtigt. Um die notwendigsten Habseligkeiten zusammenzupacken, hatten die Betroffenen an manchen Orten eine Viertelstunde, anderswo zwei bis drei Stunden Zeit.
Kinder durften 30 kg Gepäck, Erwachsene 50 kg und 100 RM in Bargeld mitnehmen. Die Wohnungen wurden versiegelt. Viele Betroffene wählten den Freitod.
Die festgenommenen Juden wurden zu Fuß, mit Omnibussen, Lastwagen, zum Teil mit Militärfahrzeugen zu den Sammelplätzen (Turnhallen, Schulen u.ä.) in den größeren Städten gebracht und von dort in Sonderzügen in das unbesetzte Frankreich abgeschoben.
Gemäß ihren Befehlen ließen Gestapo und Polizei die nicht Gehfähigen auf Tragbaren in die Sammellager bzw. in die Züge bringen.
Sieben Extrazüge aus Baden und zwei aus der Pfalz brachten insgesamt 6504 Juden aus Baden und der Saarpfalz nach Gurs in Südfrankreich. Nach einer offiziellen Liste kamen 826 Juden aus der Pfalz und 134 aus dem damaligen Saargebiet. Die Zahl der aus der Pfalz deportierten Juden liegt sicherlich höher. Mindestens 10 - 12 jüdische Mitbürger aus Dahn, Busenberg und Erlenbach sind nicht auf der Liste verzeichnet. Am 1. September 1939 wurden alle Bewohner der Roten Zone evakuiert, auch die Juden. Sie gingen zum Teil zu ihren Verwanden nach Ludwigshafen und Mannheim.
Die Fahrt dauerte zwei bis drei Tage. Sie führte über Mühlhausen, Dijon, Belfort, Lyon, Avignon, Carcassonne, Toulouse, Pau nach Oloron. Von hier aus ging es auf Militärlastwagen in das Camp de Gurs.
Im Süden Frankreichs befanden sich viele Internierungslager, die bereits vor dem offiziellen Ende des Spanischen Bürgerkrieges für die zurückflutenden Soldaten der Internationalen Brigaden und flüchtenden Zivilpersonen als Auffanglager eingerichtet worden waren.
Gurs am Fuße der Pyrenäen, das größte ehemalige „Spanierlager“, konnte etwa 18.000 - 19.000 Personen aufnehmen. Es war als Durchgangslager für die Sommerzeit konzipiert und für einen Daueraufenthalt im Winter ungeeignet. Als die Transporte der Juden aus Baden und der Saarpfalz eintrafen, stießen sie auf eine völlig unvorbereitete Lagerverwaltung, die nicht einmal die primitivsten menschlichen Grundbedürfnisse befriedigen konnte. Der jahreszeitlich bedingte Dauerregen brachte zusätzliche Erschwernisse. Von Anfang an herrschten katastrophale Verhältnisse im Lager. In dieser Situation machte sich besonders bei Alten und Kranken Resignation breit. Ein Blick in das ausgelegte Sterbebuch auf dem Friedhof von Gurs zeigt, daß viele den ersten Winter nicht überlebten. Unter ihnen auch Thekla Katz aus Dahn.

Lore Wertheimer, geb. Katz, aus Dahn Marktstraße 14, die im August 1938 mit ihrer Familie nach Ludwigshafen in die Prinzregentenstraße 26 verzogen war, berichtet über die Deportation ihrer Familie am 22. Oktober 1940 von Ludwigshafen nach Gurs:
Um 5.00 Uhr morgens erschien die Gestapo. Sie teilte uns mit, daß wir in einer Stunde abgeholt würden. Wir sollten einpacken, was wir tragen können. Pro Person durften wir 50 Kilogramm Gepäck mitnehmen. Die Mutter packte in aller Eile. Sie achtete dabei - Gott sei dank - auf warme Wintersachen. Sie kochte Eier ab und machte belegte Brote. Das Wenige, das wir von Dahn her noch hatten, mussten wir zurücklassen. Um 6.00 Uhr ging es zu einem festgesetzten Sammelplatz. In der Eile hatte ich meine Handtasche vergessen. Ich lief nochmals zur Wohnung zurück, doch die war schon verschlossen und mit einem Schild ‘Konfisziert’ versehen. Von der Sammelstelle wurden wir mit weiteren jüdischen Familien auf Lastwagen zum Hauptbahnhof gebracht. Hier trafen wir Freunde und Bekannte. Wir wurden in Extrazüge mit französischen Waggons gebracht. Zwei Tage ging es quer durch Frankreich über Toulouse, Pau bis Oloron. Wir fuhren zweimal in Toulouse ein. Der Zug fuhr manchmal so schnell, daß wir glaubten, die Lokomotive sei ohne Führer. In Oloron wurden wir auf offene Lastwagen geladen und in einer regnerischen Nacht ins ’Camp de Gurs’ gebracht. Hier waren zuvor Spanienkämpfer interniert, die vor Franco fliehen mussten.
Lore Katz berichtet weiter: Wir kamen in leere Baracken, ohne Fenster, ohne Boden, ohne Betten, ohne Stühle, ohne Ofen, ohne Wasser. Männer und Frauen wurden streng getrennt. Die Baracken waren in sogenannten Ilots (Inseln) zusammengefasst. Etwa 28 Baracken waren mit einem Stacheldrahtverhau umgeben und bildeten ein Ilot. Der Eingang zum Ilot wurde von französischen Posten bewacht. Zum Verlassen des Ilots bedurfte man einer Genehmigung. Lore war zusammen mit ihrer Mutter Thekla und ihrer Tante Marianne, der Frau von Julius Katz, im Ilot L untergebracht. Dort traf sie auch zwei Schwestern ihrer Mutter aus Venningen. Im Männer-Ilot J waren ihr Vater Josef Katz, Ludwig Levy, dessen Bruder Julius Levy und sein Sohn Helmut aus der Weißenburgerstraße 2, untergebracht.
Über die Lebensbedingungen im Lager Gurs berichtet Lore: Unsere Baracke war mit etwa 70 Frauen und Mädchen belegt. Anfangs schliefen wir auf dem nackten Boden. Erst später erhielten wir Stroh bzw. Strohsäcke. Die Kleider behielten wir auch nachts an, einerseits der Kälte wegen, andererseits, damit sie uns nicht gestohlen wurden. Die Baracken hatten keine Fenster, sondern nur verstellbare Dachluken. Es war immer dunkel und kalt. Erst später erhielten wir einen Ofen, aber das Brennmaterial war knapp. Die hygienischen Verhältnisse waren katastrophal. Es gab nur kaltes Wasser und Waschtröge. Die älteren Frauen hatten sofort Filzläuse, da sie sich nur mit eiskaltem Wasser waschen konnten. Die Wege im Lager befanden sich in einem unbeschreiblichen Zustand. Insbesondere nach den häufigen Regengüssen verwandelten sie sich in tückische Sumpf- und Morastpfade. In schrecklicher Erinnerung habe ich die Latrinen. Sie befanden sich außerhalb der Baracken und stellten eine Art „Hochstand“ dar, der über Holztreppen erreichbar war. Auf der Latrine war es zugig und kalt, unzumutbare Verhältnisse für die von Durchfall und Ruhr geplagten Lagerbewohner. Der Gang zur Latrine war ein kräftezehrendes Unternehmen. Manche Frau kam von einem Gang außerhalb der Baracke nur noch mit einem Schuh zurück, der andere war im Schlamm stecken geblieben.
Das Essen war durchweg schlecht und ungenügend. Es gab schwarzen Kaffee, kaum Brot und eine dünne Wassersuppe, die mit etwas Rüben, Kraut oder Kartoffelstückchen angereichert war. Fleisch gab es so gut wie nie. In schrecklicher Erinnerung habe ich die gelben spanischen Erbsen (Karawanzen), die nie weich wurden. Selbstverständlich konnten die, die Geld hatten, in französischer Währung innerhalb und außerhalb des Lagers zu überhöhten Preisen auf dem Schwarzmarkt Lebensmittel kaufen. Uns Kindern half eine Schweizer Hilfsorganisation. Wir erhielten wöchentlich Fette, braunen Zucker, Brot und Kakao. Ohne diese Zusatznahrung hätten viele Kinder nicht überleben können.
Am 14. Dezember 1940 starb Lores Mutter, Thekla Katz. Sie wurde auf dem Friedhof am Nordrand des Lagers beerdigt. An diesem Tag wurden weitere vierzehn Tote bestattet, darunter auch zwei Cousinen von Thekla Katz. Ihr Grab hat die Nr. 393. Nach dem Tod ihrer Mutter durfte Lore zum ersten Mal nach zwei Monaten ihr Ilot verlassen.

Im März 1941 wurden die Eltern mit Kindern vom Camp Gurs ins Lager Rivesaltes verlegt. So kam Josef Katz mit seiner Tochter Lore am 11. März 1941 in das Lager am Mittelmeer. Hier traf Lore auf die gleichaltrige Gertrud Levy aus der Weißenburgerstraße in Dahn. Sie besuchten im Camp gemeinsam einen Nähkurs. Julius Levy war nach seiner Verlegung nach Rivesaltes als Magazinverwalter angestellt worden. Er musste das Gepäck seiner Leidensgenossen verwalten. Dafür wurde ihm eine „Zweizimmerwohnung“ zur Verfügung gestellt. Hier traf sich Lore täglich mit ihrer Schulkameradin aus Dahn zu Handarbeiten. In Rivesaltes waren die Baracken zwar massiv gebaut, aber die Menschen waren über- und nebeneinander in kleinen Verschlägen, Hasenställe genannt, untergebracht. Es gab zwar nur kaltes Wasser, doch das Essen war besser. Unangenehm waren die Flöhe und Läuse. Noch furchtbarer waren die stinkenden Wanzen, die nachts von der Decke fielen.
Von Rivesaltes aus wurde Lore in ein Kinderheim nach Cantal gebracht. Zu Beginn der Deportationen im Sommer 1942 wurde Lore drei Monate bei Schwestern in einem Kloster versteckt. Mit gefälschten Ausweispapieren versehen, lebte sie unter dem Namen Laure Keller zuerst bei einer Familie in den Bergen bei Grenoble, danach bis Kriegsende bei einer Familie in Lyon. Auch hier musste sie als Jüdin unerkannt bleiben, um nicht an die Deutschen ausgeliefert zu werden.
Ihr Vater, Josef Katz, wurde wegen eines Prostataleidens von Rivesaltes nach Perpingnon in ein Hospital gebracht. Von hier aus wurde er am 8. November 1943 als schwerkranker Mann abgeholt und am 20. November 1943 über Drancy mit dem Transport Nr. 62 nach Auschwitz deportiert. Lore, die Anfang November 1943 ihrem Vater ein Päckchen ins Krankenhaus schickte, erhielt dieses mit dem Vermerk zurück: „Ohne Angabe der Adresse verzogen“. So wusste Lore, daß ihr Vater deportiert worden war. Wenige Wochen zuvor hatte sie ihn im Krankenhaus besuchen können. Die Rückgabe des Päckchens war die letzte Nachricht von ihrem Vater.

Ab Juli/August 1942 rollten die tödlichen Transporte mit den Pfälzer Juden von den Lagern Südfrankreichs über Drancy (nördlich von Paris) in die Vernichtungszentren im Osten. Unter den Opfern befanden sich nachweisbar 21 jüdische Mitbürger aus den Wasgaudörfern Busenberg, Dahn und Erlenbach.

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