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Archiv Poitiers

Die Deportation von 45 Dahner Bürgern vor 75 Jahren

Von Otmar Weber



Vor 75 Jahren, am 19. April 1945, wurden 45 Dahner Frauen und Männer nach Poitiers (Frankreich) deportiert. Zu den Deportierten gehörte auch die damals 26 Jahre alte Ruth Wegmann. Drei Wochen nach ihrer Befreiung als politische Gefangene aus dem NS-Zuchthaus Ziegenhain wurde sie in Dahn, jetzt als NS-Belastete, erneut verhaftet. Mit 101 Jahren ist sie die letzte Poitiers-Überlebende. Warum sie damals inhaftiert wurde und wer sie auf die Deportationsliste gesetzt hat, weiß Ruth Wegmann, verh. Stöckel, bis heute nicht.
Was am Donnerstag, dem 19. April 1945, in Dahn geschah, hat in der ganzen französischen Besatzungszone keine Parallele. In den frühen Morgenstunden sperrte ein französisches Sonderkommando Dahn großräumig ab. Allen Einwohnern wurde durch Ausschellen unter Androhung von Strafen befohlen, unverzüglich zur katholischen Kirche zu kommen und die Häuser offen zu lassen.
Die verängstigte Bevölkerung folgte widerspruchslos dem Befehl. Niemand – außer einem kleinen Kreis von Eingeweihten – ahnte etwas von der bevorstehenden Deportation. Kirchenausgänge und Straßen um die Kirche waren durch französisches Militär bewacht. Niemand durfte den Kirchplatz ohne besondere Erlaubnis verlassen. Unterdessen durchsuchten französische Soldaten systematisch die Häuser. Es kam auch zu Plünderungen.
Aus der Menge vor der Kirche wurden in gewissen Abständen Männer namentlich aufgerufen und in die Kirche beordert. Dort wurden an Hand einer vorgefertigten LISTE in Schreibmaschinenschrift die zu deportierenden Männer von einem französischen Offizier namentlich aufgerufen. Pfarrer Wilhelm Hafen ermahnte die Männer, den Anweisungen des französischen Offiziers Folge zu leisten und zur Kommunionbank vorzutreten. Noch im hohen Alter konnte die Frau eines Deportierten für Pfarrer Hafens Aufforderung an die Männer, zur Kommunionbank vorzutreten, kein Verständnis aufbringen.
Der damals 12-jährige Zeitzeuge R. A. hat dem Verfasser in einem ausführlichen Gespräch am 19.12.1995 die Situation in der kath. St. Laurentius Kirche während der Selektion beschrieben. Er befand sich etwa in der dritten Bankreihe auf der „Frauenseite“. Der französische Offizier stand hinter der Kommunionbank, links und rechts von je zwei mit MP bewaffneten Soldaten flankiert. Pfarrer Hafen stand hinten links im Chorraum. Die drei Kircheingänge wurden durch Militärposten bewacht. In der Kirche wurde angeregt debattiert und verhandelt. Einzelheiten hatte er nicht mehr in Erinnerung. R. A. war nicht der einzige „unbeteiligte“ Zuschauer in der Kirche. Auf der Empore befand sich ein weiterer Jugendlicher, der das Geschehen beobachtet hat.
Auf der LISTE standen auch Personen, die später nicht deportiert wurden. Es war um einzelne Männer verhandelt worden, die zur Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens als unentbehrlich galten. Nachweislich konnten mindestens vier Personen zurückgestellt werden. Dafür sind andere nachträglich handschriftlich in die LISTE eingetragen worden.
Die zu deportierenden Frauen wurden aus der wartenden Menge vor der Kirche aufgerufen; sie waren nicht in der Kirche. Als Frau L. Sch. ihren Namen nennen hörte, geriet sie in Angst und Schrecken. Es gab aber zwei Frauen dieses Namens; ihre Nachbarin beruhigte sie mit den Worten: „Du brauchst keine Angst zu haben, Du bist nicht gemeint, die holen nur Parteimitglieder“.
Insgesamt wurden vierzig Männer und fünf Frauen selektiert. Die Zeitzeugin Johanna Fischer, heute 96 Jahr alt, berichtete bei der Ausstellungseröffnung 1995, dass sich die ausgesonderten Männer und Frauen vor der Kirche versammeln mussten. Danach hatten sie sich gegenüber der Kirche (in den jetzigen Ladebuchten) aufzustellen. Mit den Verhafteten durfte nicht mehr gesprochen werden. Ihre Angehörigen wurden aufgefordert, etwas Wäsche und einige Lebensmittel in einem Paket, versehen mit Namen und Inhaltsangaben, vor der Kirche abzustellen. Gegen 15.00 Uhr kamen zwei Busse vorgefahren und nahmen die Verhafteten auf. Der Arzt Dr. Heinrich Bick konnte durch Intervention im letzten Augenblick aus dem Bus geholt werden.
Kurz nach 16.00 Uhr fuhren die Busse mit unbekanntem Ziel ab. Beim 1. Aufenthalt in Straßburg wurde Hermann Schultz, vermutlich auf Intervention der Bistumsleitung Speyer, entlassen und konnte nach Dahn zurück. Am 23. April 1945 wurden die Gefangenen in das ehemalige KZ Natzweiler/Struthof gebracht. Von hier aus ging es am 27. April 1945 in geschlossenen Viehwagen in das Lager Poitiers südwestlich von Paris, wo die Deportierten bis zum 27. Oktober 1945 hinter Stacheldraht blieben. Wochenlang haben die Angehörigen nichts von ihren verschleppten Familienmitgliedern gehört.
Frau Johanna Fischer die tags darauf auf der Ortskommandantur (Bürgermeisteramt) nach dem Verbleib ihres Vaters fragte, bekam zwar keine Auskunft, konnte aber einen verstohlenen Blick auf die LISTE werfen, die als gelbes Durchschlagpapier, auf dem Tisch lag. Außer ihr waren noch Frau Koch, die Medikamente für ihren Mann abgeben wollte, und ein Herr Jascheck im Raum anwesend.
Durch glückliche Umstände ist das Tagebuch von Peter Schappert als wichtigste Quelle erhalten geblieben. Peter Schappert hat vom ersten Tag seiner Deportation bis zu seiner Rückkehr aus Poitiers minutiös Eintragungen und Aufzeichnungen vom Lagerleben gemacht. Durch ihn erfahren wir aus erster Hand vom tristen Lageralltag, von Hoffen und Bangen, von Hunger und Durst, von Leid, Not und Tod im Lager Poitiers. Weitere wichtige Quellen bilden die Briefe, Aufzeichnungen, Akten und Unterlagen von Johannes Theobald, die Interviews und Beiträge der Geschwister Ruth und Marianne Wegmann, und der Bericht der Elsässerin Madeleine Mittag, geb. Koch, über ihren Aufenthalt im KZ Struthof von Frühjahr 1945 bis Weihnachten 1945.
Am 27. Oktober traten die Dahner Deportierten von Poitiers aus über Paris, Straßburg, Freiburg und Landau die Heimreise nach Dahn an, wo sie am Montag, dem 19. November 1945 um 7.00 Uhr auf dem Bahnhof Dahn eingetroffen sind. Die Frauen kamen ein paar Tage früher aus Freiburg. Abgemagert, krank und des Gehens kaum noch fähig, wurden sie von ihren Verwandten abgeholt und nach Hause gebracht.
Zwei Männer sind in Poitiers gestorben: Franz Schreiner und Jakob Burkhard. Weder die Angehörigen noch die Mitgefangenen wurden über den Tod der beiden informiert. Wo die beiden beerdigt sind, war nicht bekannt.
Johannes Theobald war wegen einer kritischen Äußerung 1935 aus der NSDAP ausgeschlossen worden. Er beherrschte die französische Sprache und hat von Poitiers aus alles versucht, um eine baldige Entlassung zu erreichen. Er war auch der einzige, der nach seiner Entlassung vergeblich den gerichtlichen Weg beschritten hat, um zu erfahren, wer die LISTE erstellt hat und wer die Verantwortlichen für seine Deportation waren. Der von ihm angestrengte Prozess wurde am Gericht in Zweibrücken niedergeschlagen mit der Begründung: Das Ansehen der kath. Kirche werde beschädigt. (Johanna Fischer und OStA a.D. Fritz Weibel, Ausstellungseröffnung 1995).
Bis zum Jahre 2019 war nur wenig über das Camp in Poitiers bekannt. Auf Ruth Stöckels 100. Geburtstag im Dezember 2018, gab ein Gast den entscheidenden Hinweis, dass in Poitiers ein Prof. Dr. Jean Hiernard zusammen mit seinem Team das ehemalige Lager wissenschaftlich erforscht und ein Buch darüber herausgegeben habe. Monsieur Hiernard stellte dem Verfasser alle gewünschten und zugänglichen Informationen zu Poitiers in unbürokratischer und großzügiger Weise zur Verfügung. Auf dessen Wunsch forschte Monsieur Hiernard im Stadtarchiv von Poitiers speziell nach Akten zu den Dahner Deportierten. Im Oktober 2019 fand er sowohl die Totenscheine der beiden Verstorbenen als auch – was einer kleinen Sensation gleichkommt – die akribisch geführte Personalakte der 44 Deportierten. Genauigkeit und Detailkenntnis der einzelnen Akten lässt den Schluss zu, dass auf deutsche Behörden zurückgegriffen wurde oder diese zugearbeitet haben. Von Aussehen, Tattoos, körperlichen Gebrechen, Anzahl der Kinder mit Altersangabe bis zum Schwiegervater wird in jeder Akte alles nach einem einheitlichen Schema aufgeführt. Als Verhaftungsgrund ist in jeder Akte ausnahmslos „Deutsches Subjekt“ genannt. Nur bei zwei Männern wird erwähnt, dass sie in einer Nazi-Partei bzw. Mitglieder in der NSDAP waren.
In der Akte Ruth Wegmann steht lapidar: Strafregister: 1 Jahr Gefängnis aus politischen Gründen. Eine weitere Differenzierung wird nicht vorgenommen. Ruth Wegmann wurde in Poitiers weder nach der Verurteilung und Inhaftierung durch die Nazis befragt noch bekam sie Gelegenheit auf ihre jüdische Abstammung aufmerksam zu machen. Ruth Wegmann: „Das hat die einfach nicht interessiert“.
Laut Tagebuch von Peter Schappert, wurden die Deportierten am 29. April 1945 um 7.00 am Bahnhof Poitiers ausgeladen und trafen nach einem längeren Fußmarsch um 8.00 Uhr im Lager ein. Dabei wurden sie von französischem Wachpersonal begleitet und zu zügigem Marschieren angetrieben. Franz Schreiner, schwer herzleidend, konnte das Marschtempo nicht mithalten und befand sich am Ende der Kolonne. Seine lebenswichtigen Herzmedikamente fehlten, weil ein französischer Soldat in Dahn vor dem Abtransport die Annahme der Medikamente von Schreiners Tochter verweigert hat. Marianne Wegmann, verh. Hecker, befand sich als Jugendliche ebenfalls am Ende des Zugs. Sie berichtete auf der Poitiers-Ausstellung 1995, dass Franz Schreiner ohne Fremdeinwirkung zusammengebrochen sei. Wer Schreiner helfen wollte, wurde vom französischen Begleitpersonal zum Weitermarschieren gezwungen. Sowohl Marianne Wegmann als auch Mitgefangene bestätigten, dass Franz Schreiner auf einem Steinhaufen neben der Straße lag und keine Hilfe geleistet werden durfte. Er starb vermutlich an Herzinsuffizienz, da die notwendigen Medikamente fehlten. Wo Franz Schreiner beerdigt wurde, konnte Monsieur Hiernard leider nicht ermitteln.
Zum Tod der beiden Männer finden sich in den Akten nur folgende Angaben: Nr. 517. Franz Schreiner am 29. April 1945, gestorben rue de l’Hotel Dieu, 15, geboren am 16. April 1885, Deutscher Zivilgefangener. Am Rande ist vermerkt: Schreiner Franz 60 Jahre alt. – Nr. 928. Jakob Burkhard starb am 27. Juli im Camp de la Chauvinerie, geboren in Busenberg, am 16. August 1888, Sohn von Theobald Burkhard und Barbara Schanz, Deutscher Zivilgefangener. Am Rande ist vermerkt: Burkhard Jakob, 56 Jahre alt. – Beide Totenscheine sind von Monsieur Alexis Cavalery, Direktor der Abteilung für allgemeine Bestattungsunternehmen in Poitiers, und Paul Blet, stellvertretender Bürgermeister und Zivilstandsbeamter von Poitiers, unterschrieben.
Eine für die Hinterbliebenen wichtige Mitteilung Monsieur Hiernards besagt, dass es in Poitiers keine Gräber mehr von Internierten gibt. Die deutschen Toten wurden 1961 auf den deutschen Soldatenfriedhof von Mont-d'Huisnes in der Nähe des Mont Saint-Michel umgebettet. Dort hat auch Jakob Burkhard seine letzte Ruhestätte gefunden. Nach Auskunft des VdK ist Franz Schreiner dort nicht verzeichnet. Bleiben zum Schluss noch die zwei entscheidenden Fragen: Was waren die Gründe zur Deportation und wer waren die Ersteller der LISTE? Eine schriftliche Begründung für die Verschleppung liegt nicht vor. Die angeblich von französischer Seite vorgebrachte Behauptung, die Sicherheit der Truppen sei gefährdet, ist angesichts der totalen Niederlage absurd. Die allgemein zu hörende Begründung, dass nur NSDAP-Mitglieder deportiert wurden, kann nur bedingt gelten. Denn NSDAP-Mitglieder blieben zu Hause, während Nicht-NSDAP-Mitglieder, ja sogar NS-Opfer, deportiert wurden. Zur Gruppe der unschuldig Deportierten ist mit Sicherheit Familie Wegmann zu rechnen. Marianne Wegmann, eine 16jährige Schülerin bei den Englischen Fräuleins in Landau, wurde am 19. April 1945 nach Ankunft des Zugs in Dahn am Bahnhof festgenommen und direkt zu den wartenden Deportationsbussen gebracht. Ihr Vater Josef Wegmann hat keiner Partei angehört und während der gesamten NS-Zeit seine schützende Hand über seine Stieftochter Ruth gehalten. Er war sehr darauf bedacht, dass Ruths jüdische Herkunft nicht bekannt wurde. Dennoch wurde er deportiert. Ruth selbst war ein Nazi-Opfer und wurde 1944 wegen eine Orange, die sie einem abgeschossenen kanadischen Flieger im Krankenhaus gegeben hatte, als Volksverräterin zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt mit Aberkennung der Ehrenrechte. Ruth wurde am frühen Nachmittag in ihrer Wohnung im Büttelwoog verhaftet und von einem Polizisten zu einem der wartenden Busse gebracht. Beim Einsteigen in den Bus konnte Ruth auf der LISTE, die ein französische Soldat in seiner Hand hielt, die drei Namen Josef, Ruth und Marianne Wegmann lesen, die am Ende der Namensliste mit Bleistift eingetragen, waren. Was sollte mit der skandalösen Denunziation einer jungen Frau erreicht werden, die von den Nazis wegen „Kollaboration mit dem Feind“ ins Zuchthaus gebracht worden war und nach der NS-Zeit sofort von Nicht-Nazis – oder waren es doch die gleichen – als „NS-Kollaborateurin“ den Franzosen übergeben wurde? Die Denunzianten und ihre Beweggründe liegen bis heute im Dunkel. Ruth Wegmann wurde dafür bestraft, dass sie menschlich gehandelt hat. Ihr „Verbrechen“ bestand einzig darin, dass sie das Gebot der Nächsten- und Feindesliebe ernstgenommen hat. Die Frage nach dem Warum wird auch in ihrem 101. Lebensjahr nicht beantwortet werden können. Nach heutigem Kenntnisstand kann nur gesagt werden: Die LISTE ist von Dahnern erstellt und den Franzosen nach Straßburg zugespielt worden. Sie ist nicht das Werk eines Einzeltäters, sondern eine „Gemeinschaftsleistung". Der Personenkreis der Denunzianten lässt sich auf wenige Männer und Frauen beschränken. Eine letzte Sicherheit über diesen Personenkreis wird es wohl nicht mehr geben. Im Dahner Archiv sind dazu keine Hinweise zu finden, und im Pfarrgedenkbuch wird der Vorgang, der sich in der katholischen Kirche abspielte, von Pfarrer Hafen, mit keinem Wort erwähnt. Ohne letztendliche Sicherheit verbietet sich eine Veröffentlichung des kleinen Personenkreises der vermuteten LISTEN-Ersteller. Halten wir es mit Ruth Wegmann. Bei der Eröffnung der Poitiers-Ausstellung im November 1995 sagte sie: „Ich kann zwar das zugefügte Unrecht nicht vergessen, aber ich kann verzeihen.“

Auch für dieses dunkle Kapitel Dahner Geschichte gilt die Einsicht, dass nicht Verdrängung, sondern Erinnerung Wunden heilt.



5 Ordner dokumentieren die Deportation in das Gefangenenlager Poitiers/Fankreich

Poitiers, Das Lager um 1940


Poitiers, Johannes Theobald hat sich aus einer Blechdose einen Essnapf gemacht

Poitiers, Johannes Theobald hat für seine Frau ein Stopfei geschnitzt




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