Der Artikel wurde am 08.11.2018 veröffentlicht.
Die Reichspogromnacht in Dahn vor 80 Jahren
Von Otmar Weber
Die Reichspogromnacht begann in Dahn am Donnertag, 10. November 1938, gegen 17.00 Uhr am Anwesen Julius Levy, Weißenburgerstraße 2 und endete um Mitternacht am Haus von Dr. Willy Katz in der Hauensteinerstraße, damals Adolf-Hitler-Straße. Am frühen Nachmittag erschienen einige SA- oder SS-Männer und fragten nach Julius Levy, der um diese Zeit schon in Pirmasens inhaftiert war. Bald danach drangen Dahner Männer, Auswärtige und Westwallarbeiter in das Anwesen Julius Levy in der Weißenburgerstraße 2 ein. Mit Stöcken und Hacken schlugen sie Türen und Schaufenster ein, warfen Geschirrschränke um, zerschlugen den Wasserstein in der Küche, zerhackten das Treppengeländer zum zweiten Stock und schrien dabei: "Jetzt kommt ihr dran!". Die Fensterläden wurden aufgerissen und Mobiliar, Stoffe, Bettzeug, Küchengeschirr und die verschiedensten Gerätschaften auf die Straße geworfen. Steine flogen. Die Hausbewohner schrien jämmerlich. Ihr Geschrei und das Gepolter der Täter waren weithin zu hören. Aus dem Haus drangen Parolen wie: "Holt sie raus, Stinkjude verrecke, schlagt sie tot". Das Klavier wurde auf einen LKW geladen und in Richtung Hasenbergstraße in das Westwallarbeiterlager hinter der Klamm (heute Campingplatz) gebracht. Meta Rosenstiel, verh. Serrand, ist einen Tag nach dem Pogrom von Schweinfurt nach Dahn gekommen, um ihrer Mutter, Marianne Rosenstiel, bei den Vorbereitungen zur Ausreise nach Argentinien zu helfen. Marianne Rosenstiel lebte damals bei Familie Levy in Untermiete. Bei ihrer Ankunft traf Meta Serrand ihre verstörte Cousine Elsa Levy, die Frau von Julius Levy, die ihr ausführlich über die Vorfälle in der Schreckensnacht berichtete. Schon beim Betreten des Hauses bot sich Meta Serrand ein schrecklicher Anblick. Noch war nichts aufgeräumt und die Spuren der Zerstörung überall zu sehen. Rechts vom Gang, in einem kleinen Vorzimmer, lagen zerstörte Regale, zerbrochene Einmachgläser samt Inhalt auf dem Boden. Im Laden, wo Marianne Rosenstiel ihre Sachen zur Ausreise gelagert hatte, war der Boden von zerbrochenen Gläsern und zerschlagenem Porzellangeschirr übersät, beim Buffet waren die Glasscheiben eingeschlagen und die Kristallglasplatten von Clubtisch und Servierwagen zertrümmert. Die gepackten Kisten und Koffer waren aufgebrochen, Bett- und Tischwäsche lagen zerstreut herum, manche Wäschestücke waren blutverschmiert. Der größte Teil der Wäsche war gestohlen. In der Sportplatzstraße wurden Wäschestücke mit dem Monogramm "M.R." (Marianne Rosenstiel) von einer Frau gefunden und zurückgebracht. Schreinermeister Meyer konnte am Buffet die zerstörten Glasscheiben nicht einsetzen, da nach der „Reichskristallnacht“ kein Glas aufzutreiben war. In Ermangelung von Glas setzte er Sperrholzplatten ein mit dem Kommentar: „Die sollen dort drüben (Argentinien) mal sehen, was die hier getrieben haben.“ Noch heute steht das Buffet in Argentinien als Zeugnis von Hass, Willkür und Dummheit. Während ihres Aufenthaltes in Dahn wurde Frau Serrand nicht belästigt. Gespräche mit der Bevölkerung hat sie vermieden. Sie nutzte die Zeit, um mit ihrer Mutter in Pirmasens Ersatz für die zerstörten und gestohlenen Sachen zu kaufen. Neuanschaffung und Ausreise waren für Frau Rosenstiel eine teure Angelegenheit. Für alle Neuanschaffungen mussten Juden die sogenannte Golddiskontabgabe leisten. Sie mussten Neuanschaffungen doppelt bezahlen und den Gegenwert an die Gold-Bank abführen. Außerdem hatten die Juden für die von den Nazis in der Reichspogromnacht angerichteten Schäden eine pauschale Sühneleistung, die sogenannte Judenvermögensabgabe, von 1 Milliarde RM an das Deutsche Reich zahlen. Diese war auf 20% des Vermögens festgesetzt, wurde aber später erhöht. Die den Juden zustehenden Versicherungsgelder für die Glasschäden wurden ebenfalls vom Reich kassiert. Juden, die Deutschland verließen, hatten die Reichsfluchtsteuer zu zahlen. Allein für den Abrechnungszeitraum 1938/1939 betrugen die Staatseinnahmen aus der Reichsfluchtsteuer 342,6 Millionen RM. Nach der Verwüstung des Anwesens Julius Levy - über 100 Zuschauer dürften bei dem Treiben in der Weißenburgerstraße 2 Zeugen gewesen sein - zogen die Täter in die Kanalstraße 10 zu dem Geschäftshaus August/Eugen Katz. Als sie dabei waren, Schaufenster und Türen des Geschirrladens mit Äxten und Zuschlaghämmern zu zertrümmern, rief eine beherzte Frau in die wütende Menge, dass das Haus ihr gehöre und die zerstörten Gegenstände bezahlt werden müssen. Der mutigen Frau gehörte zwar nichts, aber sie mischte sich ein, um die Täter von weiteren Verwüstungen abzuhalten. Männer, die sich an der Synagoge herumtrieben, wurden von Schreinermeister Flory, der die Synagoge und das jüdisches Schulhaus Mitte August 1938 von der jüdischen Kultusgemeinde erworben hatte, des Geländes verwiesen. Eine brennende Synagoge hätte unweigerlich die nahen Holzschuppen und Nachbarhäuser in Brand gesetzt. Jetzt zog der Mob durch die Adolf-Hitler-Straße (heute Schulstraße/Hauensteinerstraße) vor das Haus von Dr. Willy Katz (heute Dr. Klein). Auch hier wurde durch das Auftreten einer couragierten Frau Schlimmeres verhindert. Die Hausgehilfin der Familie Willy Katz rief von der Haustüre aus den Männern zu, was sie eigentlich hier zu suchen hätten. Frau Katz und ihre Tochter seien doch katholisch und Dr. Katz mit seiner Frau nach Straßburg unterwegs. Die Täter ließen von einer Aktion am Hause Dr. Katz ab. Die Meute löste sich allmählich auf und verzog sich gegen Mitternacht. Die jüdischen Frauen und Kinder aus der Weißenburgerstraße 2 wurden über Nacht zur „Sicherheitsverwahrung“ in das Gefängnisgebäude in der Pirmasenserstraße gebracht, welches um diese Zeit nicht mehr als Gefängnis genutzt wurde. Am nächsten Morgen gingen sie entlang der Bahn in ihr verwüstetes Haus zurück. Die Männer wurden nach Pirmasens gefahren und von dort mit den übrigen pfälzischen Juden in das KZ Dachau gebracht, wo sie zwischen drei und sechs Wochen in Haft blieben. Am nächsten Tag, 11. November 1938, um die Mittagszeit, zerrten drei junge Männer, die schon tags zuvor tätig waren, den jüdischen Leichenwagen von seinem Standplatz zwischen dem Bürgermeisteramt und der Kirchenmauer auf die Weißenburgerstraße und zerschlugen ihn mit Äxten und Hämmern zu Kleinholz unter Verwünschungen und Rufen wie: "Jud, verrecke!". Kurz vor der Dahner Kerwe 1939 erlebte Familie Julius Levy ihre 2. Pogromnacht. Perfide Täter rissen die 7 Personen nachts aus den Betten, verfrachteten sie auf einen LKW und fuhren sie zum Rohrwoog, einem Gewässer zwischen Dahn und Hinterweidenthal. Dort befahlen sie ihnen abzusteigen, ihr letztes Gebet zu sprechen und drohten, sie im See zu ertränken. Später brachte man die verängstigten Menschen nach Pirmasens und lud sie auf offener Straße ab. Am 01. September 1939 verließ Familie Julius Levy Dahn und zog zu Verwandten nach Mannheim. Mit ihnen gingen die letzten 7 Juden aus Dahn fort. In Mannheim wohnten sie bis zum 22. Oktober 1940. An diesem Tag wurden sie zusammen mit mehr als 6000 Juden aus der Saarpfalz und Baden in das Lager Gurs in Südfrankreich deportiert. Aus den Lagern in Südfrankreich wurden 1942 Julius Levy, seine Frau Elsa, sein Sohn Helmut, seine Schwester Meta, sein Bruder Ludwig und seine Schwägerin Helene Rosenstiel nach Auschwitz deportiert, wo sie umgekommen sind. Nur Tochter Gertrud hat den Holocaust überlebt. Sie ist am 27.05.2018 in New York gestorben. Gertrud Levy ist die einzige, die die Kristallnacht in Dahn erlebt, den Holocaust überlebt, das Geschehene nie vergessen und darüber berichtet hat. Täter waren strafunmündige Schüler – Verfahren eingestellt Während Opfer und Zeitzeugen Männer als Täter sahen und einige auch namentlich benennen konnten, werden im Schreiben der Gendarmerie-Station Dahn vom 15. November 1938 an die Oberstaatsanwaltschaft Zweibrücken vier Schüler und zwei Schülerinnen im Alter von 8 bis 13 Jahren als Täter genannt und zugleich erklärt, dass diese strafunmündig sind. Nach dem gleichen Schema wurde bei der Zerstörung des jüdischen Friedhofes Busenberg im Sommer 1938 verfahren. Auch dort werden als Täter fünf strafunmündigen Volksschüler im Alter von 8 bis 13 Jahren angegeben und das Verfahren mangels Strafunmündigkeit der Täter und mangels Vorliegens einer strafbaren Handlung eingestellt. Der damalige Bürgermeister von Busenberg vermutet in einem Schreiben vom 31. Oktober 1938 an das Bezirksamt Pirmasens sogar kommunistische Sabotage als Tatmotiv. Die Schreiben entlarven die Absicht der Behördenstellen. Polizei, Gestapo und Staatsanwaltschaft sind an der Aufklärung der Verbrechen und der Festnahme der wahren Täter nicht interessiert; ihnen geht es allein um Täterschutz und nicht um Täterermittlung. Um den Schein der Rechtsstaatlichkeit zu wahren, werden strafunmündige Kinder gemeldet und das Verfahren demzufolge eingestellt. Die wahren Täter blieben unter einem pseudorechtsstaatlichen Deckmantel, wie gewünscht straffrei, und wurden nicht belangt. Die beiden Artikel basieren im Wesentlichen auf folgenden Quellen: • Schreiben der Gendarmerie-Station Dahn an den Oberstaatsanwalt in Zweibrücken vom 15. November 1938 • Brief von Dr. Willi Katz nach seiner Entlassung aus dem KZ Dachau an seinen Bruder Eugen Katz in New York im Januar 1939 • Brief von Gertrud Levy, verh. Still, an den Verfasser 1988 • Interview des Verfassers mit einem Dahner Zeitzeugen 1992 • Interview des Verfassers mit Frau Meta Rosenstiel, verh. Serrand, von 1993 (Fotos vorhanden)
© Arbeitskreis Judentum im Wasgau, Otmar Weber, Schillerstrasse 10b, 66994 Dahn