Dahn im November 2008
Dr. Willy Katz: „Reichskristallnacht“ – KZ Dachau – Emigration in die USA – Keine Stunde länger in Deutschland –
Von Otmar Weber
Dr. Willy Katz ist am 15.06.1899 in Dahn geboren und am 21.08.1973 in New York/USA gestorben. Er war verheiratet mit Maria, geborene Sahner, aus Bildstock/Saar. Ihre Tochter Margaret ist am 01.09.1929 in Dahn geboren und lebt heute in New York. Dr. Katz war praktischer Arzt in Dahn. Seine erste Praxis befand sich im Haus Kanalstraße 8 neben seinem Elternhaus. Später zog er in sein neuerbautes Haus Hauensteinerstraße 4, während der NS-Zeit Adolf-Hitlerstraße 30 (heute Dr. Klein). Hier praktizierte er, bis 1934 das Berufsverbot der Nazis für jüdische Ärzte erlassen wurde. Der Name Dr. Katz hat bei alten Dahner heute noch einen guten Klang. Viele erinnern sich, dass Dr. Katz nicht nur ein hervorragender Arzt, sondern auch ein sehr großzügiger Mensch war. Er hat weniger bemittelte Patienten nicht nur umsonst behandelt, sondern in Notfällen noch die Rezeptgebühr bezahlt. Nach seinem Aufenthalt im KZ Dachau, der ihn zutiefst erschüttert und für immer geprägt hat, ist er im Januar 1939 über Frankreich in die USA emigriert. Auch in New York, wo er wieder als Arzt tätig sein durfte, war er bald als der gute Dr. Katz bekannt. Besonders bei den ärmeren Bevölkerungsschichten genoss er großes Ansehen. Auf dem Weg über Frankreich in die USA schrieb er im Februar 1939 von Weißenburg aus einen mehrseitigen Brief in Maschinenschrift an seinen Bruder Eugen. Darin schildert er ausführlich seine Eindrücke von der Reichspogromnacht in Dahn und seine schrecklichen Erlebnisse im KZ Dachau. Einige Gutgesinnte haben Dr. Willy Katz schon frühzeitig geraten, Dahn zu verlassen, da im Kriegsfall “alle Juden die Hälse abgeschnitten kriegen“. Er blieb trotzdem, weil er auch nirgendwo anders sicher sein konnte und solche Drohungen, die damals gang und gäbe waren, nicht ernst nahm. Ab September 1938 hat Dr. Willy Katz die Auswanderung seiner Familie mit Nachdruck betrieben und ohne den 10. November wäre ihm dies noch vor Neujahr gelungen. Am Donnerstag, den 10. November 1938, fuhren Dr. Willy Katz und seine Frau Maria schon früh, gegen 5 Uhr morgens, mit dem Auto nach Stuttgart aufs Konsulat, um die Ausreisepapiere zu erhalten. Schon nach 6 Uhr morgens, als sie nach Karlsruhe kamen, herrschte dicke Luft. Sie sahen die brennende Synagoge und die zerstörten jüdischen Geschäfte. Das gleiche Bild begegnete ihnen in Stuttgart und Cannstatt. Auch hier sahen sie demolierte Fensterscheiben und geplünderte Läden. Wie durch ein Wunder wurden sie tagsüber nirgendwo angehalten. Gegen 18.00 Uhr kamen sie unbehelligt wieder in Karlsruhe an. Dort herrschte Hochbetrieb: Polizeiautos fuhren dauernd durch die Stadt, Juden wurden verhaftet, der Pöbel tobte, überall gab es Aufläufe und Tumulte. Aus der Wohnung einer befreundeten Familie in Karlsruhe rief Dr. Willy Katz in Dahn an und erfuhr von seiner Tante Fanny, dass am Morgen jemand nach ihm gefragt hätte. Dr. Willy Katz wusste sofort Bescheid und hielt es für aussichtslos, sich zu verbergen. Da er keine Freunde, zu denen er hätte gehen können, irgendeiner Gefahr aussetzen wollte, fuhr er mit seiner Frau nach Dahn zurück. Sie kamen gegen 22.00 Uhr nach Dahn und fuhren zuerst am Geschäft, Kanalstraße 10 (heute Friseursalon Becker), vorbei. Das Haus bot einen grausigen Anblick. Die Tür war mit Äxten eingeschlagen, in den Rollläden waren Löcher so groß wie Kuchenbleche, sämtliche Scheiben in den Schaufenstern und die meisten Scheiben im Lager auf der Hofseite waren zertrümmert. Allerhand Pack, großteils Westwallarbeiter, trieb sich im Lager herum und nahmen mit, was ihnen gerade in die Finger kam. Von hier aus fuhren sie mit gemischten Gefühlen zu ihrem Hause in der Hauensteinerstraße 4, darauf gefasst, hier das gleiche Bild anzutreffen. Sie waren glücklich, Tochter Margaret, Mutter Risa, Tante Fanny und Onkel Moritz wohlbehalten vorzufinden, die wie ein Häuflein Elend beisammensaßen. Gegen 23.00 Uhr wurde Dr. Willy Katz von Polizeimeister Fuchs und einem Gestapo-Beamten verhaftet, im eigenen Buick nach Pirmasens gebracht und dort gegen 24.00 Uhr im Amtsgerichtsgefängnis abgeliefert. Zusammen mit Eljes Max von Erlenbach, der schon vorher eingeliefert war, teilte sich Dr. Willy Katz eine Zelle. Am Freitagabend, den 11.11.1938, wurde er in den Volksgarten gebracht, wo sich bereits ca. 140 Leidensgefährten aus Pirmasens und aus den jüdischen Gemeinden des Landkreises befanden. Hier musste jeder Jude ein Schriftstück unterschreiben, in dem er dem Kreiswirtschaftsberater Vollmacht für seinen gesamten Grund- und Hausbesitz erteilte. Noch am gleichen Abend wurden die jüdischen Männer in Omnibussen nach Ludwigshafen zur Maxschule gebracht, wo die verhafteten Juden aus der ganzen Pfalz versammelt waren. Von hier aus ging es um Mitternacht in einem schauerlichen Zug durch ein Spalier von aufgeputschtem Großstadtpöbel, SA- und SS-Leuten mit Hund und Peitsche zum Hauptbahnhof Ludwigshafen. Die Fenster und Balkone der Häuser waren beleuchtet und von einem sensationslüsternen Pack besetzt. Auf dem Bahnsteig “begrüßte“ eine SA-Kapelle die Juden mit Melodien wie: „Hast du nicht den kleinen Cohn gesehen“ oder „Wer wird denn weinen, wenn wir auseinander gehen“. Während die SA und SS die Juden in die Personenwagen des bereitstehenden Sonderzuges trieben und das Signal zur Abfahrt ertönte, intonierten die Musiker feierlich und getragen die Karfreitagsmelodie „O Haupt voll Blut und Wunden“, um dann plötzlich in das heitere „Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus“ hinüberzugleiten. Die Lokomotive zog an und ein letztes Mal brandete das wüste Geschrei des Pöbels auf. Als Dr. Willy Katz am Samstag, den 12.11.1938 gegen Mittag, bei einem Aufenthalt mal wieder zum Fenster hinausschaute, sah er das Bahnhofsschild Dachau‚ einen Anblick, den er nie vergessen hat. Die Ankömmlinge wurden durch die bewährte SS-Wachmannschaft des Lagers unmenschlich misshandelt. Das erste Essen, eine Hundeschüssel mit warmem Wasser, gab es Sonntagabend. Dann folgten fast vier Wochen Dachau. Auf engstem Raum waren 200 Menschen zusammengepfercht. Die Häftlinge schliefen auf dem Boden, jeder hatte nur eine Hand voll Stroh unter sich. Es gab keine Unterwäsche, keine Kopfbedeckung, keine Handschuhe, nur eine Hose und einen Kittel aus dünnem Stoff. Die Häftlinge waren von morgens 5 Uhr bis abends 19.00 Uhr auch bei der größten Kälte im Freien. Bei strömendem Regen und eisigem Wind mussten sie oft 2 bis 3 Stunden auf dem Appellplatz auf einem Fleck stehen. Exerziert wurde zu besonders ausgesuchten Schikanen. Dauerlauf bis zu einer Stunde, wobei mehr als einmal Leute, vor allem ältere Männer, umfielen und nicht mehr aufstanden. Auf Schritt und Tritt und meistens ohne jeden Anlass gab es die unerhörtesten Misshandlungen: Ohrfeigen auf die blaurot gefrorenen Backen, Schläge mit allen möglichen Gegenständen ins Gesicht, Tritte in den Hintern und in den Bauch. Kein Tag verging ohne Erschießungen. Jeder SS-Mann konnte einen Juden, der ihm gerade über den Weg lief, über den Haufen schießen und er war niemandem Rechenschaft schuldig. Allein aus der Stube von Dr. Willy Katz wurden drei Häftlinge über den Haufen geknallt, einer davon war Arthur Feibelmann aus Landau. Häftlinge, die an Lungenentzündung, Blinddarmentzündung oder Nierenerkrankung litten, starben fast alle, ohne dass ein Arzt sie nur angeschaut hätte. Ansteckend Kranke wurden bewusst mitten unter die Gesunden verteilt. Unter diesen Umständen wählten täglich Häftlinge den Freitod. In der Stube von Dr. Willy Katz haben bis zu seiner Entlassung vier Kameraden diesen Weg gewählt, darunter ein Rechtsanwalt aus Kaiserslautern. Das Essen war schlecht und ungenügend, die hygienischen und gesundheitlichen Verhältnisse miserabel. Dr. Willy Katz war darauf gefasst, nicht mehr lebend aus dieser Hölle herauszukommen. Umso überraschter war er, als er am 5. Dezember 1938 unerwartet entlassen wurde. Abgemagert, mit dem im Aussehen eines alten Mannes, kam er am Nikolaustag in Dahn an. Getrieben von der Angst, dass sich der 10. November wiederholen könnte, betrieb Dr. Willy Katz mit aller Macht die Auswanderung seiner Familie, fest entschlossen, keine Stunde länger als nötig in Deutschland zu bleiben. Unter größtem persönlichem Einsatz und Preisgabe seines gesamten Besitzes ist es ihm gelungen, sich und seine Familie im letzten Moment zu retten. Dr. Willy Katz hat sich am 21.01.1939 in Dahn abgemeldet und ist in die USA emigriert. Als Preis dafür musste er an die Nazis folgende Arisierungsgelder zahlen: 14.400,-- RM an Reichsfluchtsteuer, 10.600,-- RM an Judenvermögensabgabe, 11.000,-- RM an Golddiskontabgabe (für Neuanschaffung medizinischer Geräte). Seine Mutter Risa Katz musste 20.500,-- RM an Reichsfluchtsteuer und 14.800,-- RM an Judenvermögensabgabe zahlen. Die Arisierungsabgaben beliefen sich auf mindestens 71.300,-- RM. Um diese von den Nazis erpresste Riesensumme zusammenzubekommen, musste Dr. Willy Katz sein Haus mit Praxis in der Hauensteinerstraße 4 verkaufen. Seine Mutter Risa Katz musste ihr Wohn- und Geschäftshaus in der Grabenstraße 10 zum Einheitswert dem Finanzamt übergeben. Ihr Haus in der Grabenstraße Nr. 8 wurde zwangsarisiert. Dr. Willy Katz musste vorhandene Außenstände weit unter ihrem Wert verkaufen. Dr. Willy Katz und seine Mutter Risa haben alle Ersparnisse abgehoben und buchstäblich den letzten Pfennig Bargeld zusammenkratzt, um die nationalsozialistische Raubgier befriedigen zu können. Im Februar 1939 schreibt Dr. Willy Katz an seinen Bruder Eugen in New York, dass die Rechnung haarscharf aufging. Am Schluss war alles fort bis auf 27,-- RM, die seine Haushälterin und sein Chauffeur als Trinkgeld bekamen. Der deutsche Bildungsbürger, der assimilierte, emanzipierte und mit einer kath. Frau verheiratete Jude, Dr. Willy Katz, hat niemals mehr deutschen Boden betreten.
Begriffserklärung:
Arisierung: Der Sammelbegriff Arisierung wird gemeinhin als Enteignung jüdischen Besitzes während der NS-Zeit gebraucht. Um die verbrecherische Aneignung jüdischen Besitzes durch die Nazis zutreffender zu beschreiben, ist der Begriff Arisierung mit Raub und Plünderung gleichzusetzen. Die Juden wurden gezwungen, ihre Immobilien der „Saarpfälzischen Vermögensverwertungsgesellschaft mbH“, mit Sitz in Neustadt a.d.W., „treuhänderisch“ zu übergeben. Diese hat den jüdischen Besitzern den Verkaufspreis diktiert und anschließend bevorzugt ihre NS-Kundschaft zum Schnäppchenpreis mit dem geraubten Judengut bedient.
Reichsfluchtsteuer: Ab 1933 mussten Juden, die Deutschland verließen, bei einem Jahreseinkommen von mehr als 20.000,-- RM oder Vermögen von mehr als 200.000,-- RM eine Auswanderungssteuer, die sogenannte Reichsfluchtsteuer, in Höhe von 25% des steuerpflichtigen Vermögens entrichten. Ab 1934 wurden bereits Vermögen von 50.000,-- RM und Einkommen von 10.000,-- RM zwangsversteuert. Allein für den Abrechnungszeitraum 1938/39 betrugen die Staatseinnahmen aus der Reichsfluchtsteuer 342,6 Millionen RM.
Judenvermögensabgabe: Nach der Reichspogromnacht im November 1938 mussten die Juden für die von den Nazis angerichteten Schäden eine „Sühneleistung“ von 1 Milliarde RM an das Deutsche Reich zahlen. Die Judenvermögensabgabe wurde zunächst auf 20% des Vermögens festgesetzt und ab Oktober 1939 auf 25% erhöht. Die den Juden zustehenden Versicherungsgelder für die Schäden hat ebenfalls das Reich kassiert.
Devisenbegrenzung: Die Ausfuhr von Devisen wurde für die Juden im April 1934 auf 50,-- RM und ab September 1934 schließlich auf 10,-- RM pro Person heruntergesetzt.
Golddiskontabgabe: Für Neuanschaffungen mussten auswanderungswillige Juden den Kaufpreis nochmals als Golddiskontabgabe an die Nazis zahlen.
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